Einer der Überraschungshits des Kino-Sommers 2018 war Greg Berlantis LGBTQ-Coming-of-Age-Geschichte Love, Simon. Eine Produktion, die sich nicht nur als sehr rentabel erwies (für 20th Century Fox die dritterfolgreichste Romanze nach Romo & Julia und Das Schicksal ist ein mieser Verräter). Vor allem die Kritiken fielen wohlwollend aus und es scharte sich schnell eine Fan-Menge um die Buchverfilmung. Umso begeisterter wurde die Nachricht aufgenommen, dass Disney+ sich um eine Serie für die hauseigene Streaming-Plattform Disney+ bemühen würde. Letztlich bekam der Konzern aber doch kalte Füße und so lief Love, Victor dann auf Hulu als Pride Month-Gift im Juli 2020 an. Das Spin-off knüpft lose an den erfolgreichen Film an und erzählt eine eigene Geschichte.
Der puerto-ricanische Teenager Victor Salazar (Michael Cimino, Annabelle 3) und seine Familie ziehen von Texas nach Atlanta. Seitdem herrscht dicke Luft: Die Eltern sind am Streiten und Victors Schwester Pilar (Isabella Ferreira, Orange is the New Black) steht mit der Welt auf Kriegsfuß, da sie für den Umzug ihre Beziehung aufgeben musste. Victor findet in der Schule schnell Anschluss und freundet sich mit seinem Nachbarn Felix (Anthony Turpel) an, während er mit Mia (Rachel Hilson, This is Us) eine Beziehung eingeht. Tief in seinem Inneren ist Victor aber verunsichert und fühlt sich zu dem offen homosexuell lebenden Benji (George Sear, Alex Rider) hingezogen, der jedoch in einer Beziehung ist. Für Victor beginnt eine turbulente Zeit, denn er beginnt zunehmend seine eigene Beziehung zu hinterfragen …
Dies ist eine Familiengeschichte
Originaltitel | Love, Victor |
Jahr | 2020 |
Land | USA |
Episoden | 10 (in Staffel 1) |
Genre | Drama, Romanze |
Cast | Victor Salazar: Michael Cimino Mia Brooks: Rachel Hilson Felix: Anthony Turpel Lake: Bebe Wood Andrew: Mason Gooding Pilar Salazar: Isabella Ferreira Adrian Salazar: Mateo Fernandez Armando Salazar: James Martinez Isabel Salazar: Ana Ortiz |
Veröffentlichung: 23. Februar 2021 auf Disney+ |
Die Geschichte von Victor ist an der Creekwood High School angesiedelt und spielt damit in derselben Welt wie Love, Simon. Es geht sogar noch einen Schritt weiter: Victor betreibt Mailkontakt zu Simon, dessen Coming Out Victor bewundert. Nick Robinson, der die Titelrolle in Love, Simon spielt, bekommt zwar nur einen Cameo-Auftritt in Folge 8, ist aber in jeder Folge per Voice-Over zu hören. Denn was Victor an Gedanken mit sich herumträgt, erfahren wir im schriftlichen Austausch mit Simon. Obwohl die Freundschaft der beiden von Anfang bis Ende auf demselben Level bleibt, wirkt es nie so, als sei Victor sonst einsam. Im Gegenteil, mit Felix kann er sich über (fast) alles austauschen, die Beziehung mit Mia ist ehrlich und auch gegenüber seiner Familie ist Victor sehr direkt – es sei denn, es geht um seine Sexualität. Angenehmerweise – und das mag vielleicht überraschend sein – besteht Victors Familie nicht einfach nur, um vorhanden zu sein. Natürlich sind sie gläubig und konservativ, was die Fallhöhe eines Coming Outs noch einmal verstärkt. Aber Armando (James Martinez, Run All Night) und Isabel (Ana Ortiz, Devious Maids) sind keine Rabeneltern, sondern lieben ihre Kinder trotz eigener Probleme. Es gab einige Stimmen, die kritisierten, dass Simons Eltern in Love, Simon zu bilderbuchartig seien. Diejenigen dürften in den Salazars nun einen Gegenentwurf finden.
Vorbildlich profilierte Charaktere, bis hin zu den Nebenfiguren
Ohnehin: Die sorgsame Charakterentwicklung ist die größte Stärke der Serie. So könnte Mia ebenso als Protagonistin durchgehen. Sie ist nicht einfach nur ein Love Interest oder der weibliche Anhang von Victor, sondern eine eigenständige Persönlichkeit mit eigenen Problemen, die sich durch ein eigenes familiäres Spannungsfeld bewegt. So verhält sich das auch mit Pilar, über die zwar weniger zu erfahren ist, die aber als Victors größte Bezugsperson in der Familie gilt. In einer Schlüsselszene, in der Victor seinen Geburtstag feiert und auch das homosexuelle Paar Benji und Derek (Lukas Gage) einlädt, wird die konservative Haltung der Großeltern deutlich. Aber nicht einfach des Konfliktes wegen. Das wäre auch zu einfach. Hier wird erklärt: Die Welt um sie herum verändert sich und es fällt ihnen schwer, das zu verstehen. Soviel Differenzierung macht Spaß und ist geradezu vorbildlich. Apropos Welt: Obwohl die Handlung deutlich macht, dass Love, Victor im selben Universum wie Love, Simon spielen soll, ist es schade, dass man davon zwar immer wieder hört, aber wenig sieht. Es gibt keine gemeinsamen Locations und auch die geteilten Figuren (namentlich Simon und Bram) lassen sich an einer Hand abzählen. Das ist nicht weiter schlimm und hat auf die Handlung keinen Einfluss, ist nur in Sachen Worldbuilding kein Glücksgriff.
Angenehme Vorhersehbarkeiten und andere Dinge
So wirklich viel Stoff gibt die erste Staffel nicht her, als dass alle zehn Episoden gleichermaßen handlungsweisend wären. Trotzdem funktionieren auch die kleinen Szenen zwischendrin, weil die Figuren mit viel Liebe gestaltet wurden. So geht das Drehbuch auf die Romanze zwischen Felix und Lake (Bebe Wood, The New Normal) ein. Diese ist zwar schon ziemlich typisch für das Genre aufgezogen (werden sie ein Paar oder werden sie es nicht?) und klischeehafterweise erreicht das Finale der Geschichte seinen Höhepunkt an einer Prom Night. Und trotzdem gehören beide zu Victors Universum und besitzen daher eine Existenzgrundlage. Wo immer Geheimnisse herumgeschleppt werden, gibt es immer jemanden, der sie früher oder später herausfindet. Das scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein. Natürlich nutzt das Drehbuch das für die eigene Dramaturgie, die über die zweite Staffelhälfte hinweg in kleinen Schritten vorbereitet wird. Einige Entwicklungen sieht man schlichtweg kommen. Das liegt im Genre, im simplen dramatischen Unterbau und natürlich auch an der Zielgruppe.
Ein smarter Hauptdarsteller
Michael Cimino erweist sich als Idealbesetzung. Nicht nur, dass er auch tatsächlich aussieht wie ein Teenager (in anderen Serien gibt es genügend 30-jährige zu sehen, die einem als 16-jährige verkauft werden), man nimmt ihm die Rolle auch ab. Er bringt ein schnuckelig-unschuldiges Auftreten mit und egal, ob die Serie zusagt oder nicht: Man wird ihn definitiv mögen. Auch die anderen Rollen sind vortrefflich besetzt und insbesondere Rachel Hilson bringt großen Star-Appeal mit. Auf keinen Fall unerwähnt bleiben sollte der Soundtrack: Der setzt sich aus aktuellen Pop-Nummern zusammen, bei denen allerdings zu keinem Zeitpunkt der Eindruck entsteht, als seien sie nur aufgrund ihrer Aktualität in der jeweiligen Szene eingesetzt. Sie spiegeln unterschiedliche Gefühlslagen wieder und sind oftmals so eingebaut, dass sie zu einem besonderen Ausklang einer Folge führen, der Victors Gefühlswelt widerspiegelt. Wer es also liebt, wenn Songs das Ende einleiten und passend dazu noch mit Voice-Over unterlegt sind, findet hier eine Heimat.
Fazit
Love, Victor erweist sich als echter Glücksgriff und das nicht nur für Anhänger von LGBTQ-Geschichten. Als romantisches Teenager-Drama macht die Serie alles richtig und etabliert sorgsam ausgearbeitete Charakterprofile. Die charmante und emotionale Erzählweise bringt zwar hier und dort auch mal leicht dunkle Anflüge mit, fängt sich aber immer schnell ein und bleibt in jeder Hinsicht eine Feel-Good-Serie. Mal herzerwärmend, mal sehr sanft und gebrechlich. Dass die Serie ihr Publikum finden wird, steht außer Frage. Wünschenswert wäre aber, dass sie einem noch breiteren Publikum zugänglich wird, da die erzählerischen Qualitäten und die glaubhaften Charaktere viele Zuschauer erreichen sollten.
© Hulu