Schon mehr als ein Jahrhundert habe ich auf dem Buckel, auf dem Flakonbuckel sozusagen, wobei Ü100 so etwas will doch keiner wirklich, weshalb Chanel mich auch zu diesem Jubiläum mit der hübschen Marion Cotillard auf den Mond schickte. Wahrscheinlich sollte ich dort bleiben. Da lachten nicht nur meine berühmten Aldehyde, alte Hüte mittlerweile und allseits bekannt. Und egal wo man die besten Jahre des Lebens vermutet, sie liegen nicht auf dem Mond und schon gar nicht jenseits der 100 und für einen Eintrag ins Ranking von Parfumo reicht es auch nicht. Immerhin sind ein paar Flanker von mir platziert. Vielleicht reicht es ja zur Legende? Was die Aldehyde anbelangt sicherlich. Bin ich wenigstens Kult? Früher schon, heute nein. Also doch ein Fossil, ein Dinosaurier? Dies sicher auch nicht, denn da wäre ich wohl tot und das bin ich ganz und gar noch nicht.
Ich wurde direkt als Chanel N°5 in die goldenen Jahre, in die Roaring Twenties entlassen. 1921 erschien ich auf der Bühne der Zeit und es war genau meine Zeit. Der erste große Krieg war entgültig vorbei und die spanische Grippe gerade in drei Wellen über Europa gezogen. Die Leute hatten die Nasen voll von Dunkelheit, Verzicht, Uniformität und Angepasstheit. Es drängte sie nach Unterhaltung, Freizügigkeit, Tanz und Zerstreuung. In den schnell und überall entstehenden Ball- und Lichtspielhäusern war dies auch für kleineres Geld möglich.
Die Zeit war goldrichtig, die Mode wie gemacht für mich. Die "neuen" Frauen in ihren knielangen Cocktailkleidern eroberte ich beim Charleston im Sturm und sie mich. Ein ganz neuer Lebensstil, ein neues Lebensgefühl etablierte sich in vielen Bereichen insbesondere für die Damenwelt. Chanel N°5 war eine der Eintrittskarten dafür. Ein Parfüm für Frauen, die wie Frauen riechen sollen und wollen, ein Parfüm wie ein Statement für ein selbständiges Frausein. Neben Selbstbestimmung, Eleganz und Extravaganz stand und steht der Duft von Chanel N°5 auch für die geruchliche Annäherung zwischen der „braven, anständigen Frau“ und der "lasziv-erotischen Verführerin“. Und für Verlässlichkeit und Sicherheit auch in unruhigen, schweren Zeiten.
Meine Aldehyde riechen blumig, die Blütennoten riechen blumig und alles zusammen erscheint als gewaltiges, kraftvoll duftendes Blütenspektakel, welches seinesgleichen sucht. Die anfängliche und kurze, leicht-spritzige Zitrusfrische ist dabei nur eine Randerscheinung und das überwältigende Blütenbouquet wird nicht in einzelne Aromen auseinander gerissen, sondern wirkt als Ganzes. Der Wohlgeruch ist satt und dicht, eine ganze Blütenwiese gepackt in ein konservierendes Stück Seife, überzogen mit der wächsernen Patina einer warm-rauchigen Versuchung dieses staubtrockene Etwas in eine cremig-zärtliche Verführung zu wandeln. Und die Wandlung gelingt. Zwischen leicht und schwer, schroff und sinnlich, ehrbar und verrucht, elegant und bequem, matt und strahlend liegt oft nur ein blumiger Dufthauch. Nun darf Frau fallen in das vertraute, weiche Bett wohliger Wärme und sich eine Welt nach eigenen Wünschen bauen. Die beschützende Decke aus Amber, Vanille und Sandelholz sorgt für sinnlich-anregende Träume, der Vetiver für eine gewisse Erdung und alle zusammen begleiten süßlich-herb und würzig die Träumerei bis zum Erwachen.
Richtig Fahrt auf nahm meine Karriere dann nach dem zweiten großen Krieg. Hollywood wurde erobert und damit die westliche Welt. Die östliche Welt folgte spätestens nach dem Fall der Mauer. In Arabien und dem Reich der Mitte lieben sie Chanel N°5 sowieso. Viel Lob und Anerkennung gab es dafür über all die Jahre, wofür ich sehr dankbar bin. Leider sieht die Zukunft nicht so rosig aus. Denn neben Verehrern und begründeten Kritikern fühlt sich mittlerweile jeder kleine Wichtigtuer mit Deostickerfahrung berufen mich zu kennen, als Omaduft zu brandmarken und seine unmaßgeblichen Meinungen durchs Netz posaunen zu müssen. Dagegen ist schlecht anzukommen, gerade wenn man den „Zeitgeist“ nicht exakt trifft und die Parfümwelt, wenigstens der Mainstream, in einem süßlichen Einheitsbrei versinkt.
Dennoch leben Totgesagte länger als erwartet, auch wenn sie, so wie ich, schon einen Platz im Museum haben. Seit langem bin ich, Chanel N°5, das bekannteste und berühmteste Parfüm des Erdballs und nun auch des Mondes. Ich war mal Avantgarde im Parfümbereich und Traumduft von Generationen. Ich war und bin häufig die erste Versuchung kleiner-großer Mädchen, wenn sie aus dem Flakon der Mutter ihre ersten Tropfen Parfüm stibitzen. Ich bin noch immer eines der begehrtesten olfaktorischen Amuse-Gueule's für verschwitzte, wilde oder kuschlige Nächte. Ich bin noble Gabe und gleichzeitig der letzte Ausweg Verzweifelter als Geschenk für die verschiedensten Feste, die Hintertür für Vergessenes sowie Vergessene und oft der handfeste Hoffnungsschimmer einer Entschuldigung. Ich bin für Liebhaber und Bewunderer, für alt und jung, für Sieger und Verlierer, für Prahler und Neider, ich bin Wunsch und Grauen und vor allem bin ich ein verdammt gutes Parfüm!
Ich werde Euch also noch ein Weilchen begleiten, ob Ihr nun wollt oder nicht! Dankeschön!